Vater

Da mein Vater im öffentlichen Leben einige Spuren hinterlassen hat, stelle ich Ihnen in Ergänzung zu dessen Wikipedia-Einträgen einige Informationen über ihn zur Verfügung.



Natascha Würzbach:

FRIEDRICH WÜRZBACH - LEBEN UND WERK

Friedrich Würzbach wurde in der Öffentlichkeit während der letzten Jahre mehrfach als Nazi-Kollaborateur dargestellt. Dies ist eine einseitige Sichtweise, der ich aufgrund meiner Recherchen eine komplexere und differenziertere Rekonstruktion seiner Person und eine umfassendere Analyse seines publizistischen Werks gegenüberstellen möchte.


Friedrich Wilhelm Adolf Würzbach (1886 – 1961) wurde vor allem als Nietzscheforscher und zwischen 1933 und 1940 als Rundfunkredakteur bekannt. Die zeitweilige opportunistische Anpassung seiner Nietzsche-Interpretation an die Ideologie des Naziregimes steht in Widerspruch zu seiner überwiegend spirituellen und kosmologischen Auslegung des Philosophen. Dies ist auf dem Hintergrund seiner prekären Situation als „Halbjude“ zu verstehen.


Friedrich Würzbach wurde am 15. Juni 1886 in Berlin als Sohn eines Geschäftsmannes und seiner Ehefrau Clara, geb. Bellachini geboren. Er studierte Geologie und Naturphilosophie und promovierte 1924 an der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit einer Arbeit über „Das Rohmaterial prähistorischer Silexwerkzeuge nach Vorkommen und Eigenschaften“.1 In der Verbindung von geologischen, klimatischen und kulturellen Untersuchungsaspekten zeigt sich bereits hier das besondere Interesse Würzbachs an der philosophischen Deutung von erd- und menschheitsgeschichtlichen Entwicklungen, die seine Nietzsche-Forschung begleitet.


Sein Interesse an dem Philosophen Friedrich Nietzsche wird mit der Gründung der Nietzsche-Gesellschaft am 10. Dezember 1919 in München mit ihm als erstem Vorsitzenden und den Gründungsmitgliedern Thomas Mann, Heinrich Wölfflin, Richard Öhler, Ernst Bertram und Hugo von Hofmannsthal öffentlich.2 Der Zweck dieser Gesellschaft war es, „einen Sammelpunkt zu schaffen für alle, denen das Werk Friedrich Nietzsches zum Entscheidenden Erlebnis geworden ist.“3 Dabei wird der bewusst unpolitische Charakter der Gesellschaft im Sinne von Nietzsches Konzept des „guten Europäers“ betont: „Wir erblicken vielmehr unsere Hauptaufgabe in der Pflege eines durchaus unpolitischen, aber wahrhaft europäischen Geistes.“4


Die pan-europäische Ausrichtung der NG von 1919 bis Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts manifestiert sich sowohl in der Gewinnung von Schriftstellern verschiedener Nationen als Vorstandsmitglieder (Leo Schestow, Benedetto Croce, Ernst Robert Curtius, Oskar Levy), wie in dem Bemühen, nach dem Vorbild der internationalen Treffen von Intellektuellen in der Abbaye de Pontigny einen vergleichbaren Tagungsort für die NG etwa auf dem Monte Verità oder im Stift Melk zu finden, und schließlich in der Kontaktaufnahme zu Außenminister Gustav Stresemann.5 In seinen Publikationen zu Nietzsche von 1925 und 1930 stellt Würzbach den Philosophen in einen europäischen Kontext.6


Am 17. Oktober 1927 fand eine Tagung und Mitgliederversammlung der NG in Zusammenarbeit mit dem von Elisabeth Förster-Nietzsche begründeten Nietzsche-Archiv in Weimar statt, die ein breites Echo in der Presse fand.7 Den Berichten über die dort gehaltenen Vorträge ist zu entnehmen, dass sowohl Oswald Spengler wie Hans Prinzhorn sich bemühten, Nietzsche in ihrem jeweiligen Denksystem zu situieren. Würzbach skizzierte die Grundzüge seiner eigenen Nietzschedeutung. Die Tagung markiert auch einen Wendepunkt in seinem bisher guten Verhältnis zu Elisabeth Förster-Nietzsche und ihrem Archiv, auf dem seine bisherige und zukünftige Forschung basierte. Da die Presse fast ausschließlich über die von Würzbach organisierte Tagung berichtete und nur in wenigen Zeilen über das Archiv, entstand ein Rivalitätsverhältnis, das sich in der Folge in mehreren Streitpunkten und Anschuldigen von Frau Förster-Nietzsche gegen Würzbach manifestierte, von denen dieser gerichtlich freigesprochen wurde.8


Am nachhaltigsten zeigt sich die Arbeit der NG in der maßgeblichen Beteiligung Würzbachs als Herausgeber und Lektor an der ersten Werkausgabe Nietzsches im Auftrag von Frau Förster-Nietzsche, der dreiundzwanzigbändigen, nach dem Verlag benannten Musarionausgabe von 1922-1929. Darüber hinaus erschienen diverse Einzelpublikationen der NG.


1929 wurde die Geschäftsstelle der NG von München nach Berlin verlegt und 1933 wieder nach München, wo Würzbach eine Stelle am Reichssender München antrat. Von 1933 bis zu ihrer Auflösung durch die Gestapo 1943 (wegen Kontakten mit Juden und Emigranten, mangelnder Tätigkeit sowie Feindseligkeit gegenüber der Schwester des Philosophen)9 sind so gut wie keine öffentlichen Betätigungen der NG nachweisbar. Nach eigenem Bekunden wollte Würzbach auf diese Weise die Gesellschaft vor einer „Gleichschaltung“ bewahren.10 Das gesamte Material der NG wurde beschlagnahmt und abtransportiert. Es befindet sich heute im Goethe-und Schiller-Archiv in Weimar.


Würzbachs Nietzsche-Interpretation verlagerte sich ab 1933 schwerpunktmäßig in seine umfassendere Rundfunkarbeit. Als Leiter der Abteilung „Wissen und Weltanschauung“ verfasste er zahlreiche Rundfunkbeiträge, von denen weder Tonaufnahmen noch Manuskripte erhalten sind.11 Einige wurden in Zeitungen wie dem Völkischen Beobachter und anderen publiziert, oder es wurde zusammenfassend über sie berichtet. Seine über mehrere Jahre laufende wöchentliche Sendereihe „Vom Ewig Deutschen“ brachte eine Folge von Textpassagen deutscher Dichter aus fünf Jahrhunderten im Wechsel mit Musikstücken zu Gehör. Sie ist exemplarisch für einen Jahresablauf dokumentiert in Die Quellen unserer Kraft (1943).


Würzbachs Tätigkeit am Sender war als „Halbjude“ begleitet von der Bedrohung des fehlenden Ariernachweises sowie durch den letztlich vergeblichen Kampf darum. Er führte ihn mit der Behauptung einer illegitimen arischen Abstammung.12 Seine Programmgestaltung13 wie auch seine Ausführungen zu Nietzsche zeigen vor allem in den ersten Jahren seiner Tätigkeit eine opportunistische Anpassung an die Naziideologie, im weiteren Verlauf ein zunehmendes Ausweichen davor. Im September 1940 verlor er seine Stellung und wurde arbeitslos.


Würzbach versuchte nun durch rasch aufeinander folgende Buchpublikationen den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu bestreiten. 1940: Das Vermächtnis Friedrich Nietzsches. 1942: Nietzsche. Ein Leben in Selbstzeugnissen. 1943: Die Quellen unserer Kraft. Er wurde finanziell unterstützt durch die Gagen seiner Ehefrau Dolly, die als Tänzerin in der durch KdF organisierten Truppenbetreuung auftrat. Gleichzeitig stand seine Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer in Frage, da der Ariernachweis weiterhin fehlte.14 Im Frühjahr 1943 wurde Würzbach von der Gestapo München vorgeladen, um ihm unter Androhung von Sicherheitsverwahrung jegliche schriftstellerische Betätigung zu untersagen.15 1944 wurde er wegen „Staatsfeindlicher Äußerungen und Führerschmähung“ mehrfach durch die Vermieter der Unterkunft seiner wegen Bombenschadens evakuierten Familie angezeigt mit deren Ziel, die Mieter loszuwerden. Die Haftandrohung wurde wegen des schlechten Gesundheitszustandes von Würzbach in eine Geldstrafe umgewandelt.16


Nach der Befreiung durch die Alliierten versuchten die Denunzianten von 1944 durch ihren Anwalt unter Androhung der Vorlage von für ihn belastendem Material Würzbach dazu zu zwingen, in ihrem Entnazifizierungsverfahren positiv für sie auszusagen. Um diesen Erpressungsversuch abzuwehren, beantragte Würzbach selbst sein Spruchkammerverfahren, in dem er am 11.06.1946 „nach politischer Überprüfung als einwandfrei“ befunden wurde.17 Elf nachweislich „unbelastete“, teilweise prominente Personen bestätigten in diesem Verfahren in detaillierten eidesstattlichen Erklärungen, dass Würzbach das Naziregime abgelehnt und eine subversive Kulturpolitik betrieben habe.18


Würzbach fand jedoch keine feste Anstellung, lebte von Lektoraten, Zeitungsartikeln und Vortragstätigkeit sowie der Neuauflage seiner wichtigsten Publikationen als Taschenbücher. Im Rahmen eines Wiedergutmachungsverfahrens wurde ihm 1953 eine bescheidene Rente zugesprochen.19


1956 folgte Würzbach nach einigem Zögern der Aufforderung eines kleinen Kreises Interessierter, die Nietzsche-Gesellschaft neu zu begründen. Trotz seiner Bemühungen, neue Kontakte zu knüpfen, blieb sie bedeutungslos und war nach seinem Tod 1961 von Auflösung bedroht. Von einigen Enthusiasten am Leben erhalten, erfuhr der Verein 1987 als „Nietzsche-Kreis“ eine Wiederbelebung, etablierte sich 1999 als „Nietzsche-Forum München“ und ist seither fester Bestandteil des Münchner Kulturlebens. Das NFM versteht sich in der Nachfolge der ersten von Würzbach begründeten NG.20


Der Lebenslauf von Friedrich Würzbach, insbesondere seine Rolle als Präsident der Nietzsche-Gesellschaft und seine Tätigkeit als Forscher und Publizist am Rundfunk sowie seine Situation als „Halbjude“ während des Naziregimes lassen ein zwiespältiges und vermutlich auch persönlich sehr belastendes Verhalten erkennen. Die Situation, in der sich Autoren in dieser Zeit befanden, schildert der bekannte Kulturjournalist Hans Brandenburg, seinerzeit Mitarbeiter in der Abteilung Würzbach am Reichssender München, 1956 rückblickend:


„So stellte er [Würzbach] mir denn auch die Aufgabe, Unerlaubtes in erlaubter Form zu sagen […] und reden mußte man heimlich und gemeinverständlich zugleich. Da es Bibelsprüche nicht sein durften, stand jedesmal das Wort eines großen Dichters, Denkers, Königs, Feldherrn oder Staatsmannes im Mittelpunkt der Betrachtung, kurz eines Kronzeugen der Wahrheit, den auch die Partei als ‚deutsch‘ herauszustellen liebte, wenn sie auch seine Wahrheit zurechtbog, zurechtlog. […] Mit krankem Körper und hellem Geiste hatte der aufrechte Mann seinen Widerstand geleistet. Ich denke gerne an die Zusammenarbeit mit ihm zurück, an diese stille Verschwörung, in der wir […] Mut und Trost zu spenden und Keime zu pflanzen suchten, die die Zerstörung überdauerten.“21


Folgt man den Leitgedanken von Würzbachs Nietzsche-Forschung, so lässt sich ein Spannungsfeld zwischen Anpassung und passivem Widerstand ausmachen.


Ein zentraler Ansatz von Würzbachs Nietzsche-Interpretation ist die Bevorzugung von intuitiver Erfahrung gegenüber rationalem Denken, die in dem Gegensatz von Dionysisch versus Apollinisch gefasst und in zwei „Grundtypen des Menschen“, dem „Günstling der Natur“ und dem „Großen Kopf“ veranschaulicht wird. Diesen Leitgedanken entwickelt Würzbach in einer Sammelrezension von 1930 aus Defiziten im Forschungstand seiner Zeit22 und arbeitet ihn in seinem ersten Buch Erkennen und Erleben (1932) aus, worin Nietzsche als Kronzeuge behandelt wird. Dies entspricht dem seit Beginn des 20. Jahrhunderts sich entwickelnden Antiintellektualismus, der vom Naziregime übernommen und politisch instrumentalisiert wurde. Würzbachs Vorarbeiten zu seinem ersten Buch und anderen Publikationen vor 193323 sowie alle weiteren Buchveröffentlichungen zu Nietzsche vertreten einen spirituell orientierten Antiintellektualismus frei von jeglicher faschistischer Ideologie. Ab 1933 schließt er sich allerdings in einer Anzahl von Texten im Rahmen seiner Rundfunkarbeit der faschistischen Ausrichtung des Antiintellektualismus an, etwa in dem in Zeitschriften mehrfach publizierten Rundfunkvortrag „Die Wiedergeburt des Geistes aus dem Blute.“24 Die aktuelle Verkörperung eines in den engen Grenzen wissenschaftlicher Logik gefangenen Philosophen ist für Würzbach von Anfang an Edmund Husserl, den er nach 1933 fallweise auch als antisemitisch etikettiert.25


Mit der Konfrontation von Verstand und Gefühl geht die Etablierung einer Rangordnung einher, die Würzbach auf der Basis von Nietzsches elitärem Denken nach dem Kriterium der spirituellen Teilhabe an dionysischem Erleben bestimmt.26 Er postuliert, ebenfalls in Anlehnung an Nietzsche, eine biologisch fundierte Höherentwicklung des Menschen zu einer Fähigkeit kosmischer Teilhabe.27 Das biologische Interesse gilt hier der gesamten Entwicklung des Lebens.28 Dabei erlangt der Entwicklungssprung des Lungenfischs vom Wasser aufs Land symbolische Bedeutung für das „Selbstopfer“ des Genies im Vorstoß auf bedrohliche Grenzerfahrungen. Von diesen bis in die Nachkriegszeit weiter verfolgten Leitgedanken seiner Nietzsche-Interpretation weicht Würzbach zeitweilig während der ersten Jahre des Naziregimes ab: Er weist nun dem einfachen, unintellektuellen Arbeiter als opferbereitem Kämpfer für hohe Ziele, der einem begnadeten Führer folgte, den höchsten Rang zu und bezieht sich dabei explizit auf die Nationalsozialistische Arbeiterpartei.29 Eine rassistische Ausrichtung des Konzepts der Rangordnung, ebenfalls unter Berufung auf Nietzsches Formulierungen („Höherzüchtung der Menschheit“, „Vernichtung alles Entarteten“) trägt er in „Die Wiedergeburt des Geistes aus dem Blute“ vor und vertritt sie auch in einer Folge der Sendereihe „Vom Ewig Deutschen“: „Adel des Blutes.“30


Die vage prophetische Zukunftsorientierung Nietzsches bietet in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, ihn als frühen Verkünder einer deutschen Zukunft zu deuten: Dies tut Würzbach in einem von zahlreichen Zeitungen teilweise oder ganz abgedruckten Rundfunkvortrag vom 01.05.1933: „Nietzsche und das deutsche Schicksal“31 . Er bedient sich dabei weniger eines ausdrücklich faschistischen als eines herkömmlichen, vage patriotischen Vokabulars, wie es Nietzsche selbst pflegte („Von deutscher Tugend, “die starke deutsche Art“, „das deutsche Wesen“)32, das Vieles offenlässt, sich allerdings durchaus auf den gerade sich erfolgreich etablierenden Nationalsozialismus beziehen lässt.33 Zuletzt versäumt es Würzbach allerdings nicht, im Namen Nietzsches als „gutem Europäer“ jeden Chauvinismus abzulehnen.


Versucht man den Anteil von faschistischer gegenüber der spirituellen Ausrichtung im Gedankengut von Würzbach gegeneinander abzuwägen, kommt man seiner öffentlich gezeigten wie auch seiner inneren Einstellung näher.


In der Sendereihe „Vom Ewig Deutschen“, wie sie in Die Quellen unserer Kraft (1943) dokumentiert ist, sind von den 52 Themenbereichen etwa 10 bis 15 faschistisch akzentuiert.34 Die überwiegende Mehrzahl der Folgen ist unverfänglich ernsthaft und dient der Orientierung in Fragen der Ethik und der Auseinandersetzung mit Literatur und Kunst.35 Die Buchveröffentlichungen nach dem Verlust der Stelle am Rundfunk sind auffallend abstinent hinsichtlich Bezugnahmen zur nationalsozialistischen Weltanschauung.


In dem Vorwort zu der unveränderten Neuauflage von Erkennen und Erleben (1932) unter dem Titel Der Große Kopf und der Günstling der Natur (1941) bedient Würzbach sich vager Formulierungen, die sowohl für eine spirituelle und kosmologische Lesart im Sinne Nietzsches wie eine faschistische offen sind: „…daß der Mensch eine heroische Mission auf Erden zu erfüllen hat“ (S. 5) „Je mehr die Zeit ihrem ‚Schicksal entgegenreift ‚“ (S. 6). Die Vermutung, dass es sich um bewusste Ambivalenzen im Sinne einer sprachlichen Mimikry handelt, wird durch die Mahnung des Verfassers gestützt: „Trotzdem ist dieses Buch fern jeder Tendenz; wer sie hineinliest, versperrt sich den Zugang zu tieferen Erkenntnissen“ (ebd.).


Eine ähnliche Abgrenzung vor parteipolitischer Vereinnahmung nimmt Würzbach bereits im November 1934 in einem (offenbar nicht mehr erhaltenen) Vortrag über das Konzept seiner Ausgabe des Nachlasses von Nietzsche vor, wenn er laut Bericht des Westdeutschen Beobachters vom 11.11.193436 „es „immer abgelehnt hatte, irgendetwas an Nietzsche zu verändern, um sagen zu können, er sei ein nationalsozialistischer Philosoph.“ Die hier referierten Ausführungen Würzbachs folgen den leitenden Gedanken von Erkennen und Erleben, die keine faschistischen Konnotationen aufweisen, und werden von dem Reporter kommentiert: „Wir danken es Nietzsche, wenn das Göttliche und Metaphysische wieder in uns aufblühen können.“ An anderer Stelle bemüht sich Würzbach 1937, Nietzsche zum Nationalsozialismus in Beziehung zu setzen und gleichzeitig weniger überzeugend dessen Eigenständigkeit zu betonen.37


1940 erschien verspätet38 Das Vermächtnis Friedrich Nietzsches und brachte bisher unveröffentlichtes Material aus dem Nachlass Nietzsches in einer thematischen Anordnung an die Öffentlichkeit. In einem ausführlichen Vorwort wendet Würzbach seinen nun bereits bekannten Interpretationsansatz auf diese Texte an und bedient sich dabei wieder einer recht allgemeinen Begrifflichkeit wie „Drängen nach den Ursprüngen des Menschseins“ (VI), „Leben und Entfaltung“(X). Es finden sich nur wenige faschistische Bezüge wie etwa zu der „heutigen Bewegung“ (VI), die auch durch spirituell orientierte Formulierungen konterkariert werden wie „herrschaftlichen Rasse“ (VIII) durch „seelischer Rangordnung“ (IX). Die 1942 erschienene Biographie: Friedrich Nietzsche. Sein Leben in Selbstzeugnissen hat nur eine kurze Einleitung und zeigt eine auffallende Abstinenz von Kommentaren, was durchaus als Ausweichmanöver vor dem Zwang zur ideologischen Anpassung verstanden werden kann. Da Würzbach in seinen wissenschaftlichen Publikationen während der Nazizeit äußerst zurückhaltend in seinen faschistischen Äußerungen blieb, erforderte deren Wiederveröffentlichung nach der Befreiung durch die Alliierten kaum eine Überarbeitung.


Zusammenfassend ergibt sich aus meinen Recherchen folgendes Bild: Friedrich Würzbach arbeitete als erster in dem von Elisabeth Förster-Nietzsche begründeten Archiv und leistete in den Anfängen der Nietzsche-Forschung einen wesentlichen Beitrag zur Deutung und Popularisierung dieses Philosophen. Aus der keineswegs vollständigen Quellenlage lässt sich erkennen, dass er seit 1933 unter einem rassistisch begründeten Verfolgungsdruck39 seine Auslegungen teilweise, und vor allem in Rundfunkbeiträgen, an der faschistischen Ideologie orientierte, ihr aber zunehmend auch wieder auszuweichen versuchte und sie in seinen Buchveröffentlichungen nahezu gänzlich zu vermeiden suchte. Würzbach lieferte keineswegs eine systematische und flächendeckende Überführung Nietzsches in faschistische Ideologie, wie dies bei anderen prominenten Nietzsche-Interpreten wie Alfred Bäumler, K.O. Schmidt oder Fritz Giese der Fall ist.40 Würzbach verhielt sich zeitweilig opportunistisch, war jedoch kein überzeugter Anhänger der Nationalsozialisten.41 Sein Oszillieren zwischen Anpassung und passivem Widerstand im Kulturbetrieb des Naziregimes ist kennzeichnend für das Verhalten einer großen Anzahl von Kulturschaffenden während des Naziregimes und erfordert in der Einschätzung Ambiguitätstoleranz.



Anmerkungen


1Promotionsurkunde der Albert Ludwigs Universität Freiburg i. Br .vom 5. April 1924. Ungedruckt im Manuskript vorl.
2Vgl. Max Werner Vogel und Beatrix Vogel: Chronik des Nietzsches-Kreises. Versuch einer Rekonstruktion. Alllitera Verlag 2016, S. 33 f. unter Verweis auf den Eintrag ins Vereinsregister beim ‚Amtsgericht München.
3F. Würzbach: Dionysos. Vortrag gehalten zur Eröffnung der Nietzsche-Gesellschaft. Verlag der Nietzsche-Gesellschaft 1922, S. 32 im Anhang.
4So zitiert in: Das literarische Echo vom 11. Okt. 1922 aus dem Prospekt. GSA 72/3172.
5Zu den pan-europäischen Aktivitäten Würzbachs mit entsprechenden Belegen aus dem GSA, vgl. Elke Wachendorff. ‚“Die Gründung der ersten Nietzsche-Gesellschaft 1919 im Geiste Europas. Die Nietzsche Gesellschaft in München 1919 -1929.“ Vortrag im Nietzsche-Forum München, Montag 28. Januar 2019. Erscheint in Bälde.
6Vgl. den Bericht über seine Reise zum V. Philosophischen Kongress in Neapel 1924 in Ariadne. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft (1925), S. 137 u. 139. Sowie: „Die Wandlung der Deutung Nietzsches“, Blätter für Deutsche Philosophie (1930): betrachtet Nietzsche als organischen Bestandteil der europäischen Philosophie (210f.).
7Deutsche Allgemeine Zeitung 18.Okt.1927: „Nietzsche Renaissance “ GSA 165/649. Forschung und Fortschritte 10. Jan. 1928: „Die wichtigsten biologischen Erkenntnisse in der Philosophie Nietzsches.“ GSA 165/8433, u.a.
8Vgl. dazu genauer: Elke Wachendorff ebd.
9Vgl. Bescheid des Reichspropagandaamts München Oberbayern, Abteilung Schrifttum vom 23.2.1943 sowie Schreiben des Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda an die Reichsschrifttumskammer vom 08.05.1943, beides im BDC RKK Würzbach.
10„Bericht über Tätigkeit und Verhalten Dr. Friedrich Würzbachs vor und während des nationalsozialistischen Regimes“ sowie Beilage I S. 149. SPA AZ 15.6.1886.
11Titel und Sendedaten sind der Bayerischen Radiozeitung zu entnehmen: BRHA PER.BR.96.
12Bereits zur Zeit seiner Bewerbung legt er diese Geschichte dem Intendanten Kolb in einem handschriftlichen Brief vom 22. Juni 1933 vor. Seine seit 1939 verstärkten Versuche, verschiedene Behörden von seiner arischen Herkunft zu überzeugen, sind im BDC RKK Würzbach sowie im BRHA RV/16.4 ausführlich dokumentiert.
13Vgl. seinen „Jahresbericht für 1933“ vom 10. Januar 1934 sowie den „Bericht über die Arbeitstätigkeit der Vortrags- und Aktuellen Abteilung des Bayerischen Rundfunks München“ vom 15.Jan. 1934. Sowie einen „Lebenslauf“ maschinenschriftlich vom 20. April 1934. Vgl. BRHA RV/16.4.
14Vgl. zahlreiche Briefe an Hans Johst, den Leiter der Reichsschrifttumskammer. BDC RKK Würzbach.
15Die Aufforderung dazu durch das Reichpropagandaamt vom 06.03.1943 in der Personalakte im BDC RKK Würzbach. - Würzbach berichtet dies im Rahmen des Spruchkammerverfahrens mit Angabe „im Frühjahr 1943“. Spruchkammerakte: „Angaben von Dr. Würzbach“ S.1. SPA AZ 15.6.1866.
16SPA AZ 15.6.1866: Briefe des Anwalts der Vermieter, eine zusammenfassende Darstellung von Würzbach vom 08.03.1946.
17Ebd. S. 106.
18Ebd. Darunter Benediktiner Abt Pater Hugo Lang, den er „vor schwersten Gefahren bewahrt“ habe (Schreiben vom 15.05.1946); Professor Aloys Wenzel (15.06.1946); Ministerialreferent Willi Cronauer (14-05.1946).sowie ehemalige Mitarbeiter des Rundfunks, SPA AZ 15.6.1886.
19BHSA A 178.
20Vgl. Max Werner Vogel und Beatrix Vogel: Chronik des Nietzsche-Kreises. Versuch einer Rekonstruktion. 2016.
21Hans Brandenburg: Im Feuer unserer Liebe. 1956, S.397.
22„Die Wandlung der Deutung Nietzsches“, Blätter für Deutsche Philosophie (1930), 202 – 211. Vgl. auch seinen Bericht in der Zeitschrift Forschung und Fortschritte 10. Jan. 1928, GSA 165/8433
23Z.B. Dionysos (1922); „Nietzsche. Ein Gesamtüberblick über die bisherige Nietzsche-Literatur, Literarische Berichte aus dem Gebiet der Philosophie (1929), 5-11; "Die Wandlungen der Deutung Nietzsches", Blätter für Deutsche Philosophie (1930), 202-211; Erkennen und Erleben (1932) sowie Zeitungartikel von 1925 (GSA 165/8016) und 1928 (GSA 165/8433).
24Abgedruckt in Völkischer Beobachter 14.01. 1934: „…der Ansturm der nationalsozialistischen Bewegung gegen die Vorherrschaft der Intellektuellen ist die erste Vorbedingung zu einer Wiedergeburt des Geistes.“
25„Vom Geist der Rasse“ in: N.S..Frauenwarte 20/1938, S.625.
26So bereits in dem Vortrag „Das Problem der Rangordnung bei Nietzsche und die höchste Stufe derselben: der dionysische Mensch,“ gehalten bei einer „musikalischen Nietzsche-Feier in Hamburg am 9. Januar 1925 abgedruckt in Die Musikwelt 5.Jg. 01.02.1925 (S. 38 – 43) GSA 165/8016.
27In seinem Vortrag in Weimar 1927, in Erkennen und Erleben (1932) wie auch im Vorwort zu Das Vermächtnis Friedrich Nietzsches (1940).
28So in seinem programmatischen Vortrag auf der Tagung in Weimar 1927. Vgl. seinen Bericht in Forschung und Fortschritte 10. Jan. 1928: „Die wichtigsten biologischen Erkenntnisse in der Philosophie Nietzsches.“ GSA 165/8433.
29„Arbeit und Arbeiter in der neuen Gesellschaft. Nach Aphorismen von Nietzsche.“ Rundfunkvortrag von 1933, im Druck erschienen 1934.
30Die Quellen unserer Kraft (1940), S. 207 – 212.
31Das Literarische Echo Okt.1933 u.a. Vgl. GSA 165/10490.
32O-Ton Nietzsche von Würzbach zitiert.
33So geht Würzbach auch in einem kurzen Artikel zum 40. Todestag Nietzsches „Ihr sollt ein Volk sein“ im Völkischen Beobachter vom 25.08.1940 vor.
34Z.B. „Das Reich“ (Nr. 12), „Führen und Folgen“(Nr. 17) oder „Soldatentum“ (Nr.29).
35Z.B. „Frömmigkeit“ (Nr .32 ), „Frau Musica“ (Nr. 47), „Waldeinsamkeit“ (Nr. 32), „Wanderjahre“ (Nr. 18), „Ein allzeit fröhliches Herz.“ (Nr. 6).
36GSA 165/9714.
37Ein kurzer Beitrag im Völkischen Beobachter vom 20.06.1937.
38Es hatte sich bisher kein Verlag gefunden, obwohl die Ausgabe längst in Frankreich erschienen war: La Volontée de Puissance – Texte établi per F. Würzbach et traduit per G.Bianquis. 1935. Würzbach hatte bereits 1929 in seinem „Gesamtüberblick über die bisherige Nietzsche-Literatur“, auf die unzulängliche Behandlung des Nachlasses in der Musarion-Ausgabe hingewiesen: Literarische Berichte aus dem Gebiet der Philosophie (1929), 5 – 11).
39Die gesundheitlichen Auswirkungen lassen sich an den zahlreichen Krankschreibungen während seiner Anstellung am Reichssender München ablesen. Vgl. BRAH PER.BR.96.
40Vgl. Martha Zapata Galindo: Triumph des Willens zur Macht. Zur Nietzsche Rezeption im NS-Staat. Hamburg 1995. Galindos Einschätzung von Würzbachs Annäherung an faschistisches Gedankengut berücksichtigt nur wenige seiner Schriften und ist daher nicht verlässlich.
41Die Zwiespältigkeit und Widersprüchlichkeit seines Verhaltens versucht Natascha Würzbach auf der Grundlage von Dokumenten erzählerisch nachzuzeichnen in Das magische Tintenfass. Fast ein Roman BookonDemand 2017.




Archivarische Quellen


Bayerischer Rundfunk: Historisches Archiv: BRHA
Bayerisches Hauptstadtarchiv: BHSA
Berlin Document Centre, heute im Bundesarchiv : BDC
Goethe- und Schiller Archiv Weimar: Archiv der Nietzsche-Gesellschaft im: GSA
Akten der Spruchkammer Miesbach: SPA




Werkverzeichnis (Auswahl).



1. Buchpublikationen


1921: Dionysos. Vortrag anlässlich der feierlichen Eröffnung der NG.
1925: Hrsg: Ariadne. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft.
1932: Erkennen und Erleben: Der „Große Kopf“ und der „Günstling der Natur.“
1935: La Volonté de Puissance - texte établi par Friedrich Würzbach. (Bei Gallimard: mehrfach wieder aufgelegt)
1942 Hrsg. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes. Worte von Friedrich Nietzsche, zsgf. von Friedrich Würzbach. (Münchner Lesebogen).
1940: Das Vermächtnis Friedrich Nietzsches. Versuch einer neuen Auslegung allen Geschehens und eine Umwertung aller Werte. Aus dem Nachlass und nach den Intentionen Nietzsches geordnet. (1943 wieder aufgelegt).
1941: Die zwei Grundtypen des Menschen: Der „große Kopf“ und der „Günstling der Natur“. (Wiederauflage von Erkennen und Erleben)
1942: Nietzsche. Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten. Mit 52 Abb.
1943: Die Quellen unserer Kraft. Ein Lesebuch vom Ewig Deutschen. Zusammengestellt von Friedrich Würzbach und Fritz Krökel. (1945 wieder aufgelegt).
1949: Die zwei Grundtypen des Menschen: Der „große Kopf“ und der „Günstling der Natur“.
1954: Nietzsche: Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten. (Goldmann TB 1966, 1968, 1969 wieder aufgelegt).
1969: Friedrich Nietzsche: Umwertung aller Werte (Wiederauflage von ‚Das Vermächtnis Friedrich Nietzsches‘ bei dtv, dort wieder 1977)
1984: Das Bild des Menschen. Vom Ende der Neuzeit bis zu den Brücken der Zukunft dargestellt an Hölderlin-Nietzsche-Rilke. Zwei unveröffentlichte Manuskripte aus dem Nachlass. Hrsg.. W.L.Lohmann.



2. Zeitschriftenartikel und Rundfunkvorträge


1924: „Die Vertretung der Nietzsche-Gesellschaft auf dem V. Internationalen Philosophischen Kongreß zu Neapel 1924“; Ariadne Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Hrgs. Ernst Bertram u.a.
1925: „Das Problem der Rangordnung bei Nietzsche und die höchste Stufe derselben: der dionysische Mensch,“ Die Musikwelt. 5.Jg.Heft 2. 1.02.1925.GSA 165/8016.
1928: „Die wichtigsten biologischen Erkenntnisse in der Philosophie Nietzsches,“ Forschung und Fortschritte 10.01.1928.
1929: „Nietzsche. Ein Gesamtüberblick über die bisherige Nietzsche-Literatur“, Literarische Berichte aus dem Gebiet der Philosophie, 5 -11.
1930: „Die Wandlungen der Deutung Nietzsches“; Blätter für Deutsche Philosophie, 202 – 211.
1933: „Nietzsche und das deutsche Schicksal,“ Das Literarische Echo Okt. 1933. Vollständig oder in Auszügen in zahlreichen Zeitungen. Vgl. GSA 165/10490.
1934: „Die Wiedergeburt des Geistes aus dem Blute,“ Völkischer Beobachter 14.01.1934
1934: „Das dionysische Lied der Deutschen“. Kulturpolitik und Unterhaltung. 26.01.1934.
1934: „Das Vermächtnis Nietzsches,“ Westdeutscher Beobachter 11.011.1934. GSA 165/9714.
1934: Arbeit und Arbeiter in der neuen Gesellschaft. Nach Aphorismen von Nietzsche. Deutsches Verlagshaus Bong & Co. (Rundfunkvortrag von 1933).
1937: „Nietzsche und der Nationalsozialismus,“ Völkischer Beobachter 20.06.1937.
1938: „Vom Geist der Rasse“, N.S.Frauenwarte 20, 625.
1940: „ ‚Ihr sollt einst ein Volk sein‘ Zum 40.Todestag Nietzsches (25. August 1940)“ Völkischer Beobachter 25.08. 1940.



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